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Tucholsky: Schrei nach Lichtenberg

Schrei nach Lichtenberg

[118] Ehret eure deutschen Meister!

Im vorigen Frieden u2013 als ich noch ein kleiner Junge war und sehr verliebt u2013: da ging mir eines Tages das Geld aus. Das kann vorkommen. Und Kitty brauchte eine goldne Armbanduhr. Und da ging ich hin . . . ich schu00e4me mich ja furchtbar, aber es ist doch wahr . . . und verkaufte einen Arm voller Bu00fccher. Und kaufte ihr die Uhr und bekam einen dicken Kuu00df, und es war alles sehr schu00f6n.[118]

Unter den Bu00fcchern war auch eine alte, zwu00f6lfbu00e4ndige Ausgabe von Georg Christoph Lichtenbergs gesammelten Werken. (u00bbLichtenberg? Von dem habe ich doch mal Aphorismen . . . u00ab) Ganz recht, der.

Und jetzt mu00f6chte ich mir die gesammelten Werke wieder kaufen, und dabei stellt sich heraus, dau00df es im gesamten deutschen Verlagsbuchhandel keine gute Neuausgabe seiner Werke gibt. Keine. Ehret eure deutschen Meister!

Es gibt:

u203aLichtenbergs Aphorismenu2039. Ausgewu00e4hlt von Alexander von Gleichen-Ruu00dfwurm (erschienen bei der Deutschen Bibliothek in Berlin). u2013 u203aAphorismenu2039, herausgegeben von Josef Schirmer (erschienen im Hyperion-Verlag in Mu00fcnchen). Es gibt (wenn sie nicht inzwischen vergriffen sind): u203aAphorismenu2039 nach den Handschriften, herausgegeben von Albert Leitzmann (erschienen in Behrs Verlag, Berlin). Diese letzte Ausgabe umfau00dft drei Bu00e4nde u2013 das ist die beste. Der Rest ist sanfte Auswahl fu00fcr den Hausgebrauch.

Bei Eugen Diederichs in Jena hat es eine von Wilhelm Herzog besorgte Auswahl aus den Werken Lichtenbergs gegeben; die ist vergriffen und nicht wieder aufgelegt. Dafu00fcr drucken sie Diotimas u203aSchule der Liebeu2039… schweig still, mein Herz, sonst mu00fcssen sie hier eine Unterhaltungsbeilage anbauen . . . aber den Lichtenberg legen sie nicht neu auf. Gott segne die Verleger!

Dieses aber ist eine Affenschande.

Was! Einen Kerl nicht wieder neu zu drucken, der einen Verstand gehabt hat wie ein scharf geschliffenes Rasiermesser, ein Herz wie ein Blumengarten, ein Maulwerk wie ein Dreschflegel, einen Geist wie ein Florett . . . das muu00df man sich bei den Antiquaren mu00fchsam zusammensuchen? Diesen herrlichen Mann, der einen Buckel voll Witz, Sentimentalitu00e4t, Klugheit, guter Laune, Lust, aus Schmerz geboren, mit sich herumzutragen hatte u2013 das liegt brach? Es ist vielleicht kein u203aGeschu00e4ftu2039 . . . ich weiu00df das nicht; ich bin kein Kaufmann. Aber wer Lichtenberg ist, das weiu00df ich.

Ein Uhu, der Sekt gesoffen hat, nun nachts durch den Wald flattert und u00bbSchuhu!u00ab macht, die Mu00e4use erschreckt, sie fu00e4ngt und mit dem Ruf u00bbNicht fett genug . . . !u00ab wieder wegwirft u2013 es ist etwas ganz Einzigartiges. Morgenstern plus Hebbels Tagebu00fcchern plus franzu00f6sischer Klarheit plus englischer Groteske plus deutschem Herzen u2013 das soll man sich noch einmal suchen. Sein Witz war grob und fein, wie er es wollte. u00bbGraf Kettleru00ab, notiert er einmal: u00bbseine Aussprache war so wie des Demosthenes seine, wenn er das Maul voller Kieselsteine hatte.u00ab Oder: u00bbIhr Unterrock war rot und blau, sehr breit gestreift und sah aus, als wenn er aus einem Theatervorhang gemacht wu00e4re. Ich hu00e4tte fu00fcr den ersten Platz viel gegeben, aber es wurde nicht gespielt.u00ab Dazwischen ganz und gar morgensternsche Bemerkungen, die man nur nachschmecken,[119] deren Reiz man nicht erklu00e4ren kann. u00bbIch habe noch niemanden gefunden, der nicht gesagt hu00e4tte: es wu00e4re eine angenehme Empfindung, Stanniol mit einer Schere zu schneiden.u00ab

Wer die Gewohnheit hat, in Bu00fcchern etwas anzustreichen, der wird seine Freude haben, wie sein Lichtenberg nach der Lektu00fcre aussieht. Das beste ist: er macht gleich einen einzigen dicken Strich, denn mit Ausnahme der physikalischen und lokalen Eintragungen ist das alles springlebendig wie am ersten Tag. Nur ein wirklich frommer Mensch darf so gute Witze u00fcber die Religion machen wie dieser hier. u00bbDie Allmacht Gottes im Donnerwetter wird nur bewundert entweder zur Zeit, da keines ist, oder hintendrein beim Abzuge.u00ab

Das strahlt in allen Regenbogenfarben ernsthaften Witzes. Manchmal reiu00dft er ganze Bu00e4nde der Entwicklungsgeschichte in einen einzigen Aphorismus zusammen. u00bbEs ist ein grou00dfer Unterschied zwischen etwas noch glauben und es wieder glauben. Noch glauben, dau00df der Mond auf die Pflanzen wirke, verru00e4t Dummheit und Aberglaube, aber es wieder glauben, zeugt von Philosophie und Nachdenken.u00ab

Und der Herr Universitu00e4tsprofessor in Gu00f6ttingen, der Gottfried Bu00fcrger begraben geholfen hat, war zu allem andern ein Stu00fcck verschu00fctteter Dichter. u00bbSo traurig stund er da wie das Trinckschu00e4lgen eines crepierten Vogels.u00ab Und so hundertmal.

Von dem, was in diesen u00bbSudelbu00fcchernu00ab, wie er das genannt hat, an Witz heute verschu00fcttet liegt, leben andre Leute ihr ganzes Leben, u00bbEr hatte ein paar Stu00fcckchen auf der Metaphysik spielen gelernt.u00ab Und: u00bbEr trieb einen kleinen Finsternis-Handel.u00ab Und so in infinitum.

Nein, die Welt u00e4ndert sich nicht, und dies ist ein sehr aktueller Schriftsteller; er ist niemals etwas andres gewesen. Die Leute zitieren immer seine Beschreibungen zu Hogarths Bildern, die recht gut sind, und seine Schilderung des Garrickschen Hamlets, die besser ist u2013 aber das Wesentliche dieses einzigartigen Geistes liegt in seinen Aphorismen. Und in seinen Briefen. Der Brief zum Beispiel, den er geschrieben, als ihm sein kleines Blumenmu00e4dchen, mit dem er zusammen lebte, starb, reicht an jenen Lessings heran, den der nach dem Tode seiner Frau schrieb. Lichtenberg hatte ein heiu00dfes Herz und einen kalten Verstand.

Und fand dann solche Schluu00dfformeln wie diese, die einem Wappenspruch gleicht und einer Grabschrift und einem Satz, den man seinem Kinde mit auf den Lebensweg geben kann:

Der Weisheit erster Schritt ist: Alles anzuklagen.

Der Letzte: sich mit allem zu vertragen.

In Deutschland erscheinen allju00e4hrlich dreiu00dfigtausend neue Bu00fccher.

Wo ist Lichtenberg u2013? Wo ist Lichtenberg u2013? Wo ist Lichtenberg u2013?


Peter Panter
Vossische Zeitung, 25.01.1931, Nr. 42.